Dialog oder Boykott
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Bibliographische Infos

die Theaterzeitschrift
Jahrgang 66 (2025), Heft 1
- Autor:innen:
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- Verlag
- Der Theaterverlag, Berlin
- Erscheinungsjahr
- 2025
- ISSN-Online
- 0040-5507
- ISSN-Print
- 0040-5507
Kapitelinformationen
Jahrgang 66 (2025), Heft 1
Dialog oder Boykott
- Autor:innen:
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- 0040-5507
- ISSN-Online
- 0040-5507
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Der Start ist ein Fest. Das Somogo Collective lädt zur Eröffnung der aktuellen euro-scene für die «Ubuntu Connection» ins Schauspielhaus und lässt, nachdem das Publikum sich erstmal gegenseitig die Schultern massiert hat, acht Tänzerinnen und Tänzer der verschiedenen Genres in Battles aufeinandertreffen. Ballett trifft auf Akrobatik trifft auf Hip-Hop trifft auf Flamenco trifft auf Zeitgenössisches. Alles miteinander, alles durcheinander und auf keinen Fall gegeneinander. Am Ende gibt es keinen Gewinner, aber alle hatten großen Spaß. Die Stimmung ist enthusiastisch, das Publikum geht voll mit. Den größten Sturm der diesjährigen Ausgabe hatte Festivalleiter Christian Watty da schon ausgestanden. Anfang Oktober hatte die Gruppe Artists Against Antisemitism Leipzig gegen die Einladung des Stücks «And Here I Am» des Freedom Theatre Jenin protestiert, da dieses eine «Normalisierung islamistischen Terrors» sei, diesen verharmlose und sich offen gegen die Völkerverständigung von Israelis und Palästinensern richte. Harte Worte. Tatsächlich behandelt das Stück in der Regie von Zoe Lafferty das Leben von Ahmed Tobasi, der aktuell nicht nur das Freedom Theatre mit leitet, sondern seinen Part auch selbst spielt. Tobasi war in seiner Jugend Mitglied im Palästinensischen Islamischen Dschihad, kam in Haft und hat sich schließlich mit dem Freedom Theatre dem Konzept der kulturellen Intifada verschrieben. Um Deutschland hat die Produktion bisher einen großen Bogen gemacht, während es in Großbritannien, Frankreich und Skandinavien regelmäßig tourt. Dort hatte Festivalleiter Watty das Stück gesehen, für gut befunden und – noch wichtiger – keine antisemitischen Aussagen entdecken können. Es sollte zusammen mit Positionen aus dem Iran und Beirut einen Nahost-Schwerpunkt bilden. Harte Fronten Angesichts der Entwicklungen in Israel und Gaza seit dem 7. Oktober 2023 vielleicht ein naiver Ansatz, die Kunst für sich alleine sprechen lassen zu wollen. Zumal es auch im Zusammenhang mit einer geplanten Tagung des Internationalen Theater Instituts (ITI) gezeigt werden sollte, und die euro-scene zudem in der Gedenkwoche der Reichspogromnacht von 1938 liegt. Dennoch erstaunt die Vehemenz, mit der kompromisslos ein Boykott des Freedom Theaters eingefordert wurde. So lehnte Dana von Suffrin, eine der prominentesten Vertreterinnen der «Artists Against Antisemitism», das seit 2021 als bundesweites Netzwerk existiert, die Teilnahme an einer begleitenden Podiumsdikussion ab. Am Ende setzte die Stadt Leipzig eine Ausladung der beiden geplanten Gastspiele durch, indem sie mit einer Rückforderung der Förderung und Kündigung der Mietverträge drohte, da der Stadtrat 2019 einen Beschluss gefasst hatte, der eine Unterstützung von Anhängern der BDS (Boykott Divest Sanction)-Bewegung gegen Israel verboten hatte. Das Freedom Theatre bekennt sich umstandslos dazu, ebenso wie viele israelische Theaterschaffende und Intellektuelle, die der aktuellen rechtsradikalen Regierung und ihrer Politik in den besetzen Gebieten und dem Krieg sehr viel kritischer gegenüber stehen, als manche Teile der deutsche Kulturwelt das wahrhaben wollen. Watty lud schlussendlich «And Here I Am» vom Festival aus. Auch das ITI sagte seine Veranstaltung ab, lediglich der Theaterpreis an die Kula-Compagnie wurde in einem kleinen Festakt übergeben. Im Nachhinein ist Watty immer noch bestürzt über den Vorgang: «Ich bedaure sehr, dass das Verletzungen produziert hat. Aber ich wundere mich auch, dass Künstler:innen hier zum Boykott anderer Künstler:innen aufrufen, wo doch eigentlich Solidarität und Dialog nötig wären.» Protestnote Den Rest der euro-scene überwogen melancholische Themen, wobei diese Ausgabe eine deutlichen Fokus auf den Tanz legte: Der libanesische Tänzer Omar Rajeh gab in «Dance is not for us» dem Verlust seines Theaters in Beirut Ausdruck und verteilte am Ende wenigstens halb hoffnungsvoll Basilikum im Publikum; der iranische Choreograf Sina Saberi erinnerte in «basis for being» an die Hausparties im Teheran der 1990er Jahre, und Armin Hokmi, ebenfalls aus dem Iran, schuf mit «Shiraz» eine Reminiszenz an das berühmte Festival der 1970er Jahre. Aber alles vorbei, wenn auch nicht vergessen, das Theater wird hier einmal mehr zum Archivraum, das produktiv mit dem Material der Vergangenheit umgeht. Dieser Umgang mit der Vergangenheit ist auch das Leitmotiv der beiden Deutschlandpremieren im Theaterbereich. Da ist zum einen «Μέρα Σάββατο (Es war an einem Samstag)», eine französisch-griechische Koproduktion von Irène Bonnaud und dem Theater KET mit der Schauspielerin Fotini Banou. Zum Einlass projizieren sie eine Protestnote, in der sie sich gegen das Verbot des palästinensischen Stücks aussprechen und Empathie als Bindeglied des Humanismus einfordern. Die Textfassung des Stücks stammt von Dimitris Hadzis, Joseph Eliyia und Irène Bonnaud. Banou erzählt die Geschichte vom Ende der jüdischen Gemeinde von Ioannina in Griechenland. Die deutsche Wehrmacht organisierte hier ab dem 25. März 1944, einem Shabbat-Samstag, die Deportationen der jüdischen Bewohner nach Auschwitz, wo die meisten von ihnen ermordet wurden. Banou holt dazu weit aus und beginnt ihre Erzählung etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zur Seite stehen ihr dabei elf armlose, etwa 30 cm hohe bekleidete Holzpuppen mit detailliert gezeichneten Gesichtern, die sie immer wieder neu anordnet, einzelne Protagonisten herausstellt oder andere verschwinden lässt. Damit zeichnet Banou nicht nur die schlussendliche Vernichtung nach, sondern es gelingt ihr das Kunststück, mit einfachsten Mitteln die komplette Sozialstruktur der jüdischen Gemeinschaft aufscheinen zu lassen. Zugleich nähert sich Banou, die auch Sängerin ist, dieser verschwundenen Welt über das Mittel der Musik. Spanisch-jüdische Weisen, verloren geglaubte Musikstücke der jüdischen Tradition von Ioannina, aber auch griechische Volkslieder liefern die emotionale Grundierung dieses mehrsprachigen Abends. Teilweise kamen sie erst bei den Recherchen zu dem Stück wieder zutage. Detailliert schildert Banou den Transport der 2800 Bewohner:innen ins Vernichtungslager Auschwitz, das nur 114 von ihnen überleben werden. Auch im Lager spielt dann Musik wieder eine Rolle. Über textlich veränderte Schlager können sich die Insassen austauschen und miteinander über die Stacheldrahtgrenzen hinweg kommunizieren. Einige von ihnen sind auch bei einer Sabotageaktion an den Öfen im April 1944 beteiligt. Banou berichtet, erzählt, singt, aber macht sich doch zu keinem Zeitpunkt zu mehr als einer Erzählerin. Ihre Erzählung macht das Unfassbare greifbar, aber nicht begreifbar. Mit ihrer ruhigen, genauen, mitunter detailverliebten Erzählweise macht Banou auch die schweren Passagen erfahrbar und liefert so eine Antwort auf die Frage, wie man die Erinnerung an die Shoah erlebbar machen kann, wenn die Zeitzeug:innen, die davon berichten könnten, nicht mehr unter uns weilen. «Fremde Seelen» Zeitzeug:innen wiederum sind der dramaturgische rote Faden in «Fremde Seelen», das die euro-scene koproduziert und das zunächst ein ähnliches Setting wie das Shoah-Stück nutzt. Wieder erzählt eine Schauspielerin, hier ist es Carol Schuler, von einer historischen Begebenheit, wenn auch viel kleiner, aber dafür zeitlich und räumlich deutlich näher als die Judenverfolgung in Griechenland. Ihr Bühnenpartner ist der Musiker Kojack Kossakamvwe, der mit doppelhalsiger Gitarre und Loop-Maschine nicht nur live Musik beisteuert, sondern auch Anspielpartner und Kommentator der Vorgänge ist. Regisseurin Eva-Maria Bertschy, die 2022 bereits mit «The Ghosts are returning» bei der euro-scene zu Gast war, nimmt in ihrem aktuellen Stück den merkwürdigen Todesfall eines vietnamesischen katholischen Priesters an, den es in ein schweizerisches Bergdorf verschlagen hatte. Nach drei Jahren wird er tot aufgefunden. Alles basiert auf wahren Begebenheiten, und die Regisseurin lässt die Schauspielerin auf Spurensuche gehen. Rund um ein großes Wasserbecken mit einzelnen Steinen (Bühne Ersan Mondtag) trifft sie in vier Kapiteln auf Dorfbewohner:innen, Ordensschwestern und ihre Mutter. Es geht um Rassismus, aber vor allem um das Gefühl von Fremde, das Ankommen oder Nicht-Ankommen in dieser und die Verfolgungsgeschichte der vietnamesischen Boat-People. Gleichzeitig entfaltet sie auf Deutsch und Französisch das Panorama der Veränderungen in diesem Schweizer Idyll samt seinen eigenartigen sozialen Hierarchien. «Ich suche nach dem Alltäglichen», verkündet Carol Schuler zu Beginn, während Kojack Kos sakamvwe dazu lakonisch feststellt: «Ich spiele Gitarre.» Aus der Energie zwischen den beiden entspinnt sich der Abend, der am Ende noch um einen Auftritt des deutsch-französischen Chors Leipzig erweitert wird. Schuler spielt alle Rollen selbst (wenn sie nicht gerade Kojack Kossakamvwe dazuholt), baut sich dafür kleine Szenen und Szenarien. Da wird der Schreibtisch zum Küchentisch und die Rückwände zu Catwalks. Der Todesfall wird schließlich nicht aufgeklärt: Von Irrtum beim Pilzesuchen über Selbstmord bis Mord bleibt alles denkbar. Aber darum geht es schlussendlich nicht, sondern um den Alltag in einem Schweizer Bergdorf. Ein kleines Format von hoher Dichte und doch in jedem Moment absolut zugänglich. Dem Duo Schuler/Kossakamvwe gelingt hier eine unterhaltsame Tiefenbohrung, die auch von der Spannung ihrer beiden unterschiedlichen Perspektiven lebt. Wer eine Perspektive aus einem Guss wollte, der war bei «Mothers. A Song For Wartime» richtig. Das Gastspiel des Berliner Gorki Theaters, wo Marta Górnicka den Abend herausgebracht hat, versammelt 21 Frauen aus der Ukraine, Polen und Belarus, die auf den immer noch nicht enden wollenden Krieg in der Ukraine mit viel Pathos und Herzschmerz verweisen. Den findet auch Claudia Marsciano, die in «R.OSA. 10 esercizi per nuovi virtuosismi» (Regie Silvia Gribaudi) nicht nur gängige Schönheitsideale hinterfragt, sondern auch das Publikum mit grandiosen Entertainerqualitäten auf ihre Seite zieht. Hier schließt sich der Kreis zu Ubuntu in einem Festival, dass sowohl die große Feier als auch das große Suchen in der Vergangenheit zum Thema hatte. Zusammen kam beides im Abschluss mit Gisèle Viennes «Crowd», das eine Techno-Party in Zeitlupe präsentiert und so die Feier des Moments und die Reflexion von Strukturen gekonnt zusammenbringt. Die Lücke des Freedom Theatres Jenin aber bleibt – wie auch die Notwendigkeit eines Dialogs. Torben Ibs